Die Schweizermacher in Zagreb

Ma patrie, c’est la langue française.
Albert Camus

Als ich meinen Schweizer Pass bekam, war das der schönste Tag meines noch kurzen Lebens. Echt ! Ich war elf, meine Mutter schon tot. Die Schweizermacher hatte ich noch nicht gesehen. Erlebt ja, aber nicht gesehen. Den Film sah ich erst Jahre später in Zagreb. Originalsprache, serbokroatische Untertitel.

Damals existierte noch Jugoslawien. Auch Serbokroatisch wurde noch gesprochen. Schweizerdeutsch konnte ich nicht, das war die Sprache meiner Mutter. Serbokroatisch konnte ich nicht, das war die Sprache meines Vaters. Ich lachte aber viel und verstand auch viel. Mein Vater war da, mein Cousin auch. Er war 14 Jahre älter als ich, lebte in Zagreb. Ich liebte ihn sehr, traf ihn wenig. Zu wenig. So begriff ich viel von der Schweiz, als ich Die Schweizermacher in Jugoslawien sah. Ich war 16.

Als ich 10 Jahre alt war, hatte ich die Schweizermacher zu Hause kennen gelernt. Sie kamen zu uns, um sich in unserer Wohnung umzuschauen, speziell in meinem Zimmer – vielleicht würden sie dort einige Indizien finden, dachten sie, Indizien, die ihnen etwas über mich erzählen würden, ihnen beweisen würden, dass ich der Schweiz nicht würdig wäre. No Future konnte ich noch nicht sein, aber wer weiss, wer kann wissen, was eine(r) ist… Meine Lehrerin hatten sie schon ausgefragt, meine Schulhefte und Noten schon zur Kenntnis genommen. Wir – meine Eltern und ich – warteten auf das Urteil. Ich fühlte mich erniedrigt.

Damals durfte ein Kind die schweizerische Nationalität von der Mutter nicht übernehmen. So kam ich mit einem italienischen Pass zur Welt. Ja. Nicht einem jugoslawischen. Weil mein Vater zu der slowenischen Minderheit in der Gegend von Triest gehörte. Er wurde 1922 geboren. Österreich-Ungarn existierte nicht mehr, das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen war noch sehr jung. Mein Vater lebte auf der falschen Seite der Grenze. In der Gegend, die Italien erobert hatte. Dann kam Mussolini, der Faschismus, es kamen italienische Namen und Pässe für alle Slowenen, die auf der falschen Seite der Grenze lebten.

Mein Vater hiess Darko Kovač, die Italiener nannten ihn Natale Fabbri. Dann kam der Zweite Weltkrieg, mein Vater wurde ein Partisan Titos, und 1945 liess er sich mit seiner Familie in Zagreb nieder. Zehn Jahre später, dank seinem italienischen Pass – der faschistische Pass war zum Pass der demokratischen Freiheit geworden – verliess er Titos Regime, an das er nicht mehr glaubte, lebte eine Weile in Tessin – Italienisch konnte er dank Mussolini –, um schlussendlich in Genf anzukommen, wo er geblieben und dann gestorben ist. In Genf hat er im Cern gearbeitet und meine schweizerische Mutter geheiratet. So bin ich an der Rhône zur Welt gekommen, mit einer Mutter, die in Bern geboren war, mit einem italienischen Pass und einem italienischen Nachnamen, der nicht der wahre Nachname meines Vaters war.

Damals – es waren die Sechziger Jahre – waren die Italiener für alle primitive Gastarbeiter, die in Baracken lebten. So schämte ich mich und wurde geschmäht. Weil ich eine Italienerin war. Das fand ich völlig ungerecht – da meine Mutter doch aus Bern, mein Vater aus Jugoslawien stammten, und da ich nur Französisch konnte… Wie sollte ich das meinen Schulkameraden erklären mit meinen 7, 8 oder 9 Jahren? Der erste Schultag war der Tag der Schande. Weil jeder mit Namen und Nationalität erwähnt wurde. Dann, in der Pause, fing es an. Ach du bist eine Italienerin – verschiedene Beschimpfungen folgten. So wurde der Tag, an dem ich meinen Schweizer Pass erhielt, der schönste meines noch kurzen Lebens. Schluss mit den Beschimpfungen.

Meine Mutter hat diese Erlösung nicht erlebt. Einige Monate vorher war sie gestorben. Trotz oder dank der Schweizermacher ist es ihr doch noch gelungen, mir ihre Nationalität zu übergeben. Immerhin. Allerdings heisst Nationalität nicht Identität. Ich weiss nicht, ob ich eine Schweizerin, eine Slowenin, eine Kroatin oder eine Italienerin bin. Meine Identität liegt in der Sprache. Meine Sprache ist ein französisches Französisch – ohne Schweizer Akzent. Die Muttersprache meiner Mutter war Bärndütsch, die meines Vaters Slowenisch. Ich habe keine Muttersprache, kein Vaterland. Ich habe meine Sprache, die mein Land und mein Haus ist. Das französische Französisch. Wo auch immer ich bin auf der Welt.

Jetzt schreibe ich aber diesen Text auf Deutsch. Ob das etwas an meine Identität ändert?